Nachdem wir Frauchen und Heike alles erzählt hatten, von dem Jungen, den wir retten wollten und der vor uns noch weit größere Angst hatte als vor seiner Mutter und dem Mann, der ihn wohl missbrauchte, da gingen sie sofort ins Haus und riefen die Polizei.

Zusammen mit Merlin, Percy, Socke und Paulinchen, Neelix, Bubu und Lucky stieg ich in den Wipfel des Holunderbaums. In allen Astgabelungen lagen noch die bunten Kissen, die wir für fröhliche Katzenplaudereien im Baum hergerichtet hatten. In den Zweigen schaukelten noch die Lampions, die am Abend den Garten in ein Zauberlicht tauchen sollten.

Am Waldrand stand das Wohnmobil, die graue Limousine parkte daneben, und bis hierher hörten meine feinen Katzenohren das Schreien. Zwei Erwachsene, ein Mann und eine Frau, die Befehle bellten, eine Kinderstimme, hoch vor Schmerz und Angst und Panik. Hoffentlich war die Polizei bald da.

Dann entdeckten wir etwas Kleines, Schwarzes vom Wohnmobil wegrennen und im Wald verschwinden.

Kurz darauf quietschten Reifen, und zwei Polizeiautos stoppten direkt vor dem Wohnmobil. In dem Moment plumpste ich vom Ast, weil ich mich so weit vorgebeugt hatte, konnte mich gerade noch an einem anderen festhalten, gewann wieder mein Gleichgewicht und kletterte erneut hoch. Als ich wieder oben war, sah ich eben noch, dass zwei Polizisten den Mann und die Frau abführten und eine dritte Person bei dem Jungen stand und mit ihm redete. Etwas Schwarzes mit ein bisschen Weiß löste sich aus dem Gebüsch.

Kurz darauf waren sie hier. Anja, die Polizistin, die mit Frauchen befreundet ist seit der Grundschule, der Junge und das Schwarze mit ein bisschen Weiß – Rosita. „Ich habe alle Beweise!“, miaute Rosita. „Er hätte mich erschossen, wenn ich ihn gekratzt oder gebissen hätte. Deshalb versteckte ich mich und nahm alles mit dem iPhone auf.“

„Seine Tante ist schon informiert“, sagte die Polizistin zum Frauchen. „Sie ist bereits unterwegs hierher und holt ihn ab. Ich dachte, es ist besser für ihn, bei dir auf sie zu warten als auf dem Revier. Hast du einen Kakao oder einen Saft? Kevin, magst du einen Kakao? Und eine Decke? Kevin, das Schlimmste ist vorbei, und wein‘ jetzt nur, wenn dir nach Weinen ist.“

Frauchen und Heike schauten irgendwie hilflos aus. Und auch ich, auch wir fühlten uns völlig hilflos. Da saß der Junge, der gerade vergewaltigt worden war, vergewaltigt mit der Zustimmung seiner eigenen Mutter, und er war ganz in sich zusammengesunken, wie gar nicht da. Als hätte sich seine Seele aus der schrecklichen Situation entfernt, irgendwohin, weil sie sonst in lauter kleine Stücke zerbröselt wäre.

Da kam Luca aus seinem Versteck, der kleine weiße traumatisierte Kater.

Ich dachte noch: „Das geht jetzt doch gar nicht, er hat doch vor Katzen solche Angst“.

Doch Luca, der setzte sich ganz leis vor den  kleinen Menschen hin, und in seinen Augen schwamm der ganze Schmerz von Perrera und Gejagtwerden, Geschlagenwerden, Hunger, Missachtung, Verzweiflung.

Der Junge hob den Kopf, nur ein klein wenig hob er den Kopf, und in seinen dunklen Augen lag der gleiche Schmerz.

Ihre Blicke versanken ineinander,

und dann begann Luca, leis zu schnurren, und Kevin begann, ganz zaghaft, nur in den Mundwinkeln und in den Augen, ganz scheu zu lächeln.

Wir blieben in unseren Verstecken, um ihn nicht zu ängstigen. Wir schauten aus dem Gebüsch und herab vom Baum. Von dort aus sahen wir dieses Lächeln, dieses winzig-kleine, kostbare Lächeln.

– Ende –